Die Fresken von Ferdinand Gehr im Trierer Dom
Alpha und Omega
Auf der Internetseite des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz war lange die Darstellung eines sich von der Antike bis in die Gegenwart wandelnden Kirchengrundrisses zu sehen. Es war der Grundriss des Trierer Doms, der sich - ausgehend von dem frühchristlichen römischen Quadratbau über die Erweiterungen und Umgestaltungen der Romanik, der Gotik und des Barock immer wieder veränderte.
Dieser Kirchenbau ist "lebendig" geblieben, weil das Überkommene weitergeführt und den aktuellen Anforderungen angepasst wurde. Der Trierer Dom ist damit wie wohl kaum ein anderes kirchliches Gebäude deutlicher Ausdruck des alten Grund-Satzes "Ecclesia semper reformanda" - die Kirche hat sich immer zu erneuern.
Moderne Kunst als Teil der "ecclesia semper reformanda"
Bei der großen Domrenovierung in den Jahren 1970 bis 1974 fand diese Idee ihre Fortführung, indem unter anderem der neue Hauptaltar im Zentrum des römischen Kernbaus seine Aufstellung fand; zudem beauftragte das Domkapitel Ferdinand Gehr mit der Ausführung der Fresken "Alpha" und "Omega" (Anfang und Ende / Schöpfung und Erlösung) über den Westportalen.
Immer wieder ist zu beobachten, dass Besucher des Doms entweder nach einem kurzen Hinschauen unverständig weitergehen oder erstaunt und suchend vor diesen Fresken stehen bleiben. Gleich ist jeweils der erste fragende und verblüffte Blick auf die unerwarteten und ungewöhnlichen Bilder.
Alpha - Anfang und Schöpfung
Die alten Fensterplätze über den Hauptportalen konnten bei der Renovierung nicht mehr "in natura" ausgeführt werden; damit musste Ferdinand Gehr die Fenster regelrecht in die Fensternischen hineinmalen. Da er dazu kein Licht von draußen - vom Domfreihof her - hereinbekam, musste er doppelt so viel Licht in seine Farbe mischen, damit die Fensterwirkung entsteht. - Treffend beschreibt Dompfarrer Nikolaus Föhr die beiden Fresken "Alpha" und "Omega" als Fenster, denn sie leuchten in kräftigen Farben, fügen sich aber trotzdem wie ein Fenster in das Gesamtbauwerk ein. Beide Fresken sind auf der gleichen dunklen blauen Hintergrundfarbe aufgebaut; sie bietet eine Tiefe für den lichten Vordergrund der Bilder "Alpha" und "Omega" und nimmt auch Bezug zu der barocken Ausgestaltung der Kuppel über der Apsis des Westchores.
Den Unterschied von Alpha und Omega, Anfang und Ende der Heilsgeschichte drückt Gehr zunächst in einem anderen Gestaltungsansatz aus. Gegenüber dem Bild "Omega" ist "Alpha" abstrakter gehalten. Er selbst schreibt: "Beim Alpha ist es das innergöttlichen Lebens. Es ist unserer menschlichen Kenntnis weitgehend entrückt. Das Schweigen ist hier eher entsprechend als Schillern, abstrakte Formen eher als beschreibende." Ein heller geschlossener Ring bestimmt das Bild "Alpha", den der Künstler als das "göttliche Rund", als "Sinnbild der Einheit" beschreibt. In diesem gelb-weißen Lichtring sind drei verschiedenfarbige Punkte, Zeichen für die Trinität, als "Sinnbild der Verschiedenheit" eingefügt.
Auf einem anderen Werk von 1974, welches ebenfalls das Thema "Dreifaltigkeit" aufgreift, hat Gehr auf einer roten Hintergrundfarbe drei sichelförmige Farbflächen dargestellt, die zusammen mit der Pinselführung in der Mitte des Bildes eine strudelartige Bewegung andeuten. Die drei Figuren fügen sich in die Bewegung ein und symbolisieren so das "zeitlose Sein der Dreiheit in der Einheit".
Im Gegensatz zu dieser Darstellung ist das "göttliche Rund" selbst im Trierer Dom ruhiger dargestellt. Eine Bewegung ist hier aber auch, und zwar am Bildrand mit den verschiedenfarbigen Punkten, die in gelbe Rechtecke eingeschrieben sind, angedeutet. Gehr sieht in dieser Darstellung die Engel, die Geisteswesen, die Erstlinge der Schöpfung, im "lichten Gelb der Freude". Jeder hat seine eigene Farbe, ist ein Individuum. Einer ist auch auf einem schwarzen Rechteck dargestellt, der Widersacher.
Die gleichmäßig strömende Bewegung wird von einer zweiten senkrechten Bewegung überlagert. "Vom Heiligen Geist (gelber Punkt) ausgehend ein roter Strahl, der sich auf die weiße Figur (gotterfüllt, gnadenvoll), der Muttergottes, bewegt, Symbol, der im göttlichen Ratschluss vorherbestimmten Menschwerdung. Die Muttergottes steigt heraus aus dem Grün der Erde und verbindet die Menschenwelt mit Gott." Hier wird die besondere Bedeutung Mariens, die durch ihre Bereitschaft erst die Menschwerdung ermöglichte, hervorgehoben. Ursprünglich sollte im Zentrum der Darstellung "Alpha" eine kleine Figur eingestellt werden, eine Menschengestalt Jesu. "Es sollte deutlich werden, dass die Gottheit irdisch geworden, ins Hiesige eingetreten ist. Statt dessen hat Gehr den "roten Strahl" ausgeführt, der die abstrakte Gestaltung des Alpha unterstützt.
Omega - Ende und Erlösung
"Das Bild des Omega hat ein vom Alpha verschiedenes Gestaltungsmotiv. Es hat mehr die Vielfalt der Bewegung und die Formen der sichtbaren Welt (Wolken, Baum, Menschen, Tier). Dominierend, aber doch mit einer Haltung des Sichhineingebens, alles vereinend, die Mitte der Mensch gewordenen Liebe, Christus. Um ihn ist alles in einer starken gemeinsamen Bewegung, die Menschen mitsamt allem Geschaffenen. Es ist die reine Freude am Sein. Ein Dasein, in dem die Bedinungen der Materie zwar nicht aufgehoben, aber in die Freiheit des Geistes einbezogen sind. Die Farben der Menschen und der Gegenstände vereinigen sich in einer Harmonie, die in Christus ihre strahlende Fülle erreicht." So beschreibt Ferdinand Gehr selbst das Omega, die Endzeit.
Zwei Jahre vor den Fresken im Trierer Dom entsteht bei Gehr das Tafelbild "Freude am Dasein". Auf einer schwarzen Fläche stehend, geben Mann und Frau mit ausgestreckten Armen ihrer Freude an der Schöpfung und der Schönheit der Welt Ausdruck. In dieser Schönheit der Welt zeigt sich für Gehr, "dass sich Gott nach dem Schöpfungsakt nicht zurückgezogen hat," Himmlisches deutet sich im Irdischen an.
In der Darstellung des "Omega" ist der eschatologische Bezug, die "reine Freude am Sein" in einer ähnlichen schwebenden Komposition gegeben. Eindeutig wird er durch die zentrale Christusdarstellung, die - ähnlich den romanischen Triumphkreuzen - das Kreuz und die verherrlichte Gestalt des Auferstandenen zugleich abbildet.
Während sich im "Alpha" die Menschwerdung abstrakt andeutet, ist Christus im "Omega" in menschlicher Gestalt mitten unter die Menschen gestellt und damit deutlicher Ausdruck der menschgewordenen Gottesliebe. Der zentralen Christusfigur steht zudem eine gelbe Menschengestalt zur Seite. Diese helle Figur ist nicht näher gekennzeichnet. Gehr deutet damit an, dass sich jeder Mensch persönlich von der Erlösung Jesu Christi angeprochen fühlen darf und soll. Die gesamte Menschheit, von Anfang an mit Adam und Eva, die Natur und der Himmel sind in die Erlösung mit einbezogen. Die Symbole des Bösen (die Schlange) und des Todes (das Grab) sind an den Rand gerückt.
Sowohl im "Omega" als auch im Bild "Freude am Dasein" wird die Freude in kindlicher Einfachheit spürbar. Der Vorwurf, Gehrs Kunst sei naiv, verkehrt sich gerade auch in diesen Bildern zum Gegenteil: Im scheinbar Naiven werden Geheimnisse in einer besonderen Tiefe, wird eine ansteckende Freude am Christsein erfahrbar.
In der Einfachheit erschließt sich die Tiefe
Das Thema "Alpha und Omega", Anfang und Ende der Heilsgeschichte, ist umfassend; so hat Ferdinand Gehr in diesen Fresken viele Motive zusammengeführt, denen er eigenständige Darstellung in Tafelbildern gewidmet hat. Von Gehr ist bekannt, dass es ihm die frühchristliche und die romanische Kunst besonders angetan hatten. So ist es wahrscheinlich nicht nur das Thema, sondern auch eine besondere Hommage an den Trierer Dom, sein sakrales Oeuvre hier verdichtet darzustellen.
Bis heute, 29 Jahre nach ihrer Fertigstellung, gehen die Meinungen zu den Fresken "Alpha" und "Omega" auseinander. Sie regen an und sie regen auch auf. Kritiker stören sich unter anderem an den kräftigen Farben und der reduzierten Formensprache. Gehrs Werk entspricht ihnen zu wenig der Norm für kirchliche Kunst. Auch wird bemängelt, dass die Fresken zu dominant in ihrer Wirkung seien, was sich allerdings in der Gesamtbetrachtung des Raumes, vor allem im Zusammenhang mit den Denkmälern im Dom, relativiert. Befürworter hingegen sehen in den Fresken ein Zeichen, dass Kirche sich nicht auf Überkommenes und Traditionelles beschränkt, dass die Botschaft des Evangeliums ihre Aktualität behalten hat und dass es auch heute noch möglich ist, unserem Glauben kraftvoll und deutlich Ausdruck zu verleihen. Beide Positionen beschreiben zunächst aber nur den ersten Eindruck der Bilder an sich. Die Frage nach der Rolle von Bildern im Kirchenraum geht aber darüber hinaus.
In der Veröffentlichung "Liturgie und Bild" der deutschen Bischofskonferenz heißt es: "Bilder sollen helfen, unsere Vorstellungen anzuregen und das Gedachte mittelbar zu machen", und Dr. Herbert Fendrich, Kunstreferent der Diözese Essen schreibt: "Bilder sollen nicht abbilden, sie müssen im Gegenteil sichtbar machen, was sich hinter der Oberfläche des Sichtbaren verbirgt."
Ferdinand Gehr bietet mit seiner Kunst Antworten auf diese Aufforderungen, er verdichtet, bringt "auf den Punkt", ohne abzuschließen. Vielmehr eröffnet er Zugänge, regt zum Nachdenken an, gerade weil er über eine vordergründige Verständlichkeit und "adressatenfreundliche Anschaulichkeit" hinausgeht. Eine Auseinandersetzung mit seinen Bildern ist notwendig, aber auch jedem möglich. Gerade Erfahrungen mit Kindern zeigen, dass diese Bilder trotz ihrer Komplexität eine Art "biblia pauperum" für die nicht mehr mit der Bibel Vertrauten sein können. Wie das Christentum selbst ist Gehrs Kunst von einem scheinbaren Paradoxon begleitet. In der Einfachheit erschließt sich die Tiefe oder, wie er es selbst ausdrückte: Er habe je länger desto mehr gespürt, dass die Religion etwas ganz Einfaches sei, dass das Wichtigste etwas ganz Einfaches sei.
"Am 6. Januar 1896, dem Dreikönigsfest, ist Ferdinand Gehr geboren worden. Die Weisen, die lange unterwegs waren und dem Stern gefolgt sind, um den neugeborenen König zu finden, sind zeitlebens Vorbilder des Gottsuchens von Gehr gewesen." So beschreibt Pater Natanael Wirth, Leiter der Propstei Sankt Gerold, Ferdinand Gehr. "Alpha und Omega" im Trierer Dom sind ein Angebot, über die "transformierte" Sprache Gehrs auf Gottessuche zu gehen, Auge und Herz zu öffnen für die Botschaft Jesu Christi.
Text: Johannes Krämer, *1966, Diplom-Ingenieur & Architekt, seit 2003 Baudirektor des Bistums Mainz